Mensch oder Maschine – Wer ist „fitter“ für die Zukunft des Versicherungsvertriebs?

In dem von Charles Darwin im Jahr 1859 veröffentlichten Buch „The Origin of Species“ erläutert er sein Theoriensystem zur Entwicklung der verschiedenen Lebensarten auf der Erde – die Evolutionstheorie.

Wenngleich viele Spezies in jüngerer Historie vor allem auch durch Menschenhand vom Erdboden verschwunden sind, zieht sich durch die gesamte Erdgeschichte ein anderer roter Faden: Eine Spezies besteht nur dann fort, wenn sie sich weiterentwickelt und sich an die ändernden Gegebenheiten in ihrer Umwelt (optimal) anpasst. Dieses Naturgesetz gilt wohl auch für die „Spezies“ Versicherungsvermittler. Mit der Digitalisierung, als die neue und richtungsweise Revolution der Menschheitsgeschichte, verändert sich die Umwelt und die Umgebung auch für den Versicherungsvertrieb. Auch aus anderer Richtung getriebene Themen, wie etwa Regulation und Provisionsdeckel, verändern die Spielregeln schnell, nachhaltig und grundlegend. Mit „weiter so“ wird es nicht mehr lange weitergehen.

Zentrale Revolutionen in der Menschheitsgeschichte

Der Verlauf der Menschheitsgeschichte ist geprägt von zahlreichen, richtungsweisenden Revolutionen, die die Entwicklung der Spezies Mensch maßgeblich in eine neue Richtung gelenkt haben.

Kognitive Revolutionvor ungefähr 70.000 JahrenLernfähigkeit, Erinnerung und Kommunikation sind die Basis für die Entwicklung einer Kultur und die Ausdehnung des Lebensraums des Menschen.
Landwirtschaftliche Revolutionvor ungefähr 12.000 JahrenMenschen wurden sesshaft und die sich entwickelnde Landwirtschaft ermöglichte ein starkes Bevölkerungswachstum. Die zunehmende (lokale) Bevölkerungsdichte begünstigte die Entwicklung von hierarchischen Strukturen und die zunehmende Ungleichheit.
Wissenschaftliche Revolutionvor ungefähr 500 JahrenDie Entwicklung moderner Naturwissenschaften und die schnelle Verbreitung von Wissen dank Buchdruck trieben die Entwicklungen in Technik voran. Der Mensch erkannte, dass Forschung und neue Technologien zu Macht, Ruhm und Reichtum führen können.
Industrielle Revolutionvor ungefähr 200 JahrenAuf Basis der wissenschaftlichen Revolution beschleunigten sich die Entwicklungen in der Technik, die wiederum die Produktivität enorm steigerten. Es erfolgte der Übergang von der Land- zur Industriewirtschaft.

Die digitale Transformation ist in diese Liste einzureihen oder zumindest ist sie eine logische Konsequenz und Fortsetzung der wissenschaftlichen und industriellen Revolution. Verbreitet herrscht die Meinung vor, dass die digitale Transformation eine noch kurze Historie hat, ja, sogar noch etwas Neues ist. Doch in Wahrheit liegen die Anfänge der Digitalisierung schon viel, viel weiter zurück!

Die digitale Transformation begann schon viel früher

In der Hochphase der industriellen Revolution, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, begannen bereits die ersten zarten Aktivitäten in Richtung Digitalisierung. Es entstanden ausgefeilte Konzepte für mechanische Rechenmaschinen, während sich parallel zu dieser Zeit erst noch Telefon und Strom entwickeln und verbreiten mussten.

Im weiteren Verlauf definierte und forcierte die Nachfrage die Entwicklung von Rechenmaschinen. Der wirtschaftliche Aufschwung und auch die militärische Aufrüstung erforderten immer komplexere und umfangreichere Rechenoperationen, die auf dem bis dahin herkömmlichen Weg nicht oder nur mit viel Geduld zu bewerkstelligen waren. In den 1960er Jahren wurden die Großrechner einiger US-amerikanischen Universitäten vernetzt. Es entstand damit der Vorgänger des heutigen Internets, das ab den 1990ern dann kommerziell genutzt wurde. Computer sind dann im Haus- und Hofgebrauch kaum noch wegzudenken. Sie werden immer kleiner, günstiger und leistungsfähiger. Bei vielen Aktivitäten werden Computer nun zunehmend durch Tablet und Smartphone ersetzt. Was kommt als nächstes?

Während die ersten Rechenmaschinen noch so groß wie Häuser waren, steckt heute in den im Vergleich hierzu geradezu winzigen Smartphones so viel mehr Rechenpower. Es ist eine faszinierende Entwicklung. Sie war noch nie so schnell wie heute und wird aber vermutlich auch nie wieder so langsam sein.

Künstliche Intelligenz – wenn die natürliche Intelligenz an ihre Grenzen stößt

Es ist nicht ganz so leicht, den Begriff „Intelligenz“ zu definieren. Im Allgemeinen meinen wir mit Intelligenz wohl die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen, also die Fähigkeit zu denken, zu lernen sowie sich zu erinnern. Das Attribut „künstlich“ bringt lediglich zum Ausdruck, dass es nicht um die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen, sondern um die einer Maschine geht.

Informatik, Mathematik und die aktuellen Möglichkeiten in der Technik sind die Grundlage für eine künstliche Intelligenz (KI), aber die Treiber sind ganz andere: es sind die Nützlichkeit, die Bequemlichkeit und auch die Schnelligkeit von KI-basierten Anwendungen und Dienstleistungen.

In der realen Welt kann KI mittlerweile Schachspielen, beherrscht das asiatische Brettspiel GO, kann Lippenlesen und wird bei der Hautkrebserkennung eingesetzt. Dies sind nur einige Beispiele, bei denen KI bereits heute schon besser ist als der Mensch. Auch im Alltag kommt KI zum Einsatz. Denken wir nur an Suchmaschinen und Sprachassistenz. Spannend an vielen modernen Anwendungen von KI ist, dass eine Maschine mittels KI in die Lage versetzt wird, sich Fähigkeiten wie etwa das Schachspielen selbst beizubringen.

Status Quo im LV-Vertrieb

Kommen wir auf den Boden der Tatsachen im Versicherungsvertrieb. Dort sind Papierdokumente noch immer ein liebgewonnenes Kind, das man nur ungern loslässt. Die eine oder andere Umfrage fördert zu Tage, dass der Versicherungsvermittler kein besonders beliebter und angesehener Berufsstand ist. Das Vermittlersterben in Deutschland hält an und das Durchschnittsalter im Vertrieb ist steigend. Der drohende Provisionsdeckel in der Lebensversicherung wird hier sicherlich keine Trendwende schaffen.

Auch wenn die ganz großen Exzesse im Vertrieb schon etwas länger zurückliegen, so sind sie noch immer in den Köpfen vieler Menschen. So wie aktuell bei der Berichterstattung der Medien rund um die Lebensversicherung wird auch der Berufsstand der Versicherungsvermittler kaum positiv erwähnt.

Es ist definitiv keine einfache Basis, ja, keine wirklich gute Ausgangslage, um über die Zukunft des Versicherungsvertriebs zu sprechen, oder? Aber das doch auch nur, wenn man so weitermachen will wie bisher.

Wenn ich die Evolutionstheorie zu Rate ziehe, so heißt das für mich in Bezug auf einen Versicherungsvermittler ganz einfach: anpassen oder aussterben. Eine andere Option sehe ich nicht!

Die Probleme eines Menschen in Sachen Finanzen

Im Endeffekt ist die Lage für die Finanzberatung aber doch gar nicht so schlecht. Menschen haben nach wie vor keine Ahnung von Finanzen und vor allem nicht von ihren eigenen. Im Hinblick auf Finanzen fehlt es den meisten Menschen an zwei ganz elementaren Dingen:

  1. Übersicht über die eigenen Vermögenswerte und Versicherungen
  2. Übersicht über Möglichkeiten bei Finanz- und Versicherungsprodukten und deren Wirkung sowie deren Vor- und Nachteile

Wie kann ein Kunde eine Finanzstrategie entwickeln, ohne über die aktuelle Situation vollumfänglich Bescheid zu wissen? Wie kann ein Kunde eine Strategie umsetzen, ohne zu wissen, welche Produkte und Möglichkeiten verfügbar sind, wie diese Produkte funktionieren und welche Kombination an Produkten gerade „optimal“ für ihn wäre? Wie kann über Altersvorsorge überhaupt nachgedacht werden, wenn weder die potenzielle Lücke im Alter noch der mögliche Bedarf bekannt ist?

Da nicht zu erwarten ist, dass der Finanz-Analphabetismus in der Gesellschaft einfach und schnell überwunden wird, werden die meisten Menschen auch in Zukunft eine Beratung benötigen.

Die Lösung: Ökosystem „Finanzen“

An einer Lösung dieser beiden zentralen Probleme arbeiten bereits verschiedene Anbieter. Sie arbeiten konkret am Ökosystem „Finanzen“ und das Ergebnis wird ein Online-Finanzcockpit sein. Mit einem solchen Cockpit wird jeder Endkunde in der Lage sein, seine aktuelle Situation jederzeit „schwarz auf weiß“ und auf einen Blick abzulesen. Er wird damit auch in die Lage versetzt, seine persönlichen Finanzen einfach zu managen – entweder selbst oder mit Hilfe eines Beraters.

Dank der Übersicht in seinem Cockpit sieht der Kunde auf einen Blick wie und wo seine Finanzmittel kurz-, mittel- und langfristig angelegt sind. Innerhalb der Cockpits wird er einfach den Schalter zwischen den verschiedenen Töpfen stufenlos umlegen können. Innerhalb der Töpfe werden ihm unterschiedliche Anlagemöglichkeiten mit zum Beispiel unterschiedlichen Anlagerisiken oder Schwerpunkten zur Verfügung stehen.

Dank des Finanz-Cockpits hat er sein Gesamtanlagerisiko immer im Blick. Fortschrittliche Hochrechnungen, die auch die zukünftigen Einnahmen und Ausgaben berücksichtigen, geben einen Anhaltspunkt über die Liquidität sowie das mögliche zukünftige Vermögen. Es wird das Ende des finanziellen Blindflugs des Kunden sein.

Im Kontext eines Ökosystems „Finanzen“ wird Technologie auch dafür sorgen, dass die beiden Dienstleistungen „Versicherung“ und „Banking“ sich auf natürliche Art und Weise vereinigen.

Auch die aus Kundensicht völlig unnatürlichen Grenzen zwischen einzelnen Versicherungssparten werden verschwinden. Das Finanzcockpit macht die verschiedenen Risiken der im Laufe eines Lebens aufkommenden Lebenssituationen sichtbar. Diese Risiken können dann durch geeignete Produktlösungen reduziert bzw. eliminiert werden.

Die Lage für den humanen Vertrieb ist nicht aussichtslos, aber …

Längst haben sich in dem Wettlauf um das Ökosystem „Finanzen“ neben Banken und Versicherer neue Mitbewerber eingeschaltet. Wer wird das Rennen gewinnen? Banken, Versicherer oder doch die Branchenfremden?

Für den etablierten Vertrieb ist das eigentlich egal. Solange er den Kontakt zu seinen Kunden aufrecht halten kann, wird der Weg zum Endkunden für alle Anbieter nur über ihn gehen. Gerade der weiterhin bestehende Bedarf an Beratung und Altersvorsorge sollte dem humanen Vertrieb Mut machen.

Andererseits sind Finanzplanung und Schachspielen doch vielleicht recht ähnlich. Bei beidem habe ich zahlreiche Optionen und verschiedene Randbedingungen (zum Beispiel zulässige Spielzüge oder steuerliche Überlegungen). Es wäre töricht zu glauben, dass sich das nicht auch eine Maschine selbst beibringen kann. Spannend dabei ist auch, dass sich das dahinterliegende Regelwerk leicht austauschen lässt, so dass KI bei der Finanzplanung quasi in jedem Land einsetzbar wäre. Oder mit anderen Worten: Finanzplanung auf Basis von KI ist hoch-skalierbar und daher für alle (Tech-)Anbieter maximal interessant.

Sinnvoll und sehr wahrscheinlich erscheint mir, dass der (humane) Versicherungsvermittler sich hin zu einem ganzheitlichen Lebensbegleiter und Ökosystem-Berater entwickeln wird. Dabei wird er viel Technologie nutzen, um möglichst viel Zeit für den Endkunden zu haben und um letztlich auch mehr Endkunden betreuen zu können.

Der ganzheitliche Finanzberater wird von einem Sprachassistenten, einem Chatbot und einem KI-basierten CRM-System bei seiner täglichen Arbeit unterstützt und entlastet.

Der Ökosystem-Berater betreut seine Kunden in allen Dingen rund um das Ökosystem „Finanzen“. Es geht dabei um Kredite, Finanzierungen, Liquiditätsplanung, kurz-, mittel- und langfristige Anlage, Reduktion von (Lebens-)Risiken, aber auch um den Kauf und die Verwertung einer Immobilie – letztlich also um alle Themen, bei denen es „ums Geld“ geht. Dabei muss er nicht zwingend alle Details selbst organisieren und wissen müssen, sondern er wird das gesamte Angebot im Ökosystem für den Kunden orchestrieren.

Der Vorteil bei der anstehenden Transformation des Versicherungsvertriebs liegt auf den ersten Blick bei großen Vertriebskonglomeraten, wie zum Beispiel die großen Makler-Pools oder die klassischen Großvertriebe.

Doch es wird nicht der Größte oder der Stärkste diesen Wandel am besten meistern, sondern derjenige, der sich am besten an die neue Umgebung und den Bedarf der Menschen anpasst. Daher sehe ich auch für kleine Vertriebseinheiten eine Chance, wenn sie zum Beispiel bei der IT mit anderen zusammenspannen. Das Zauberwort heißt „Kooperation“. Hier ist es jedoch besonders wichtig darauf zu achten, dass der Kooperationspartner nicht über kurz oder lang mit eigenen Beratungsangeboten den Vermittler umgehen kann.

Kooperationen und Technologie sorgen dafür, dass bei dem Ökosystem-Berater ein größerer Fokus auf Vertrieb und dem Kundenkontakt liegt. Es geht dabei vor allem darum, im engen Kontakt mit dem Kunden zu sein und ihn so bei Bedarf vollumfänglich betreuen zu können. Genau da wird KI vermutlich noch etwas länger brauchen.

Natürlich wird am Ende jeder einzelne Mensch selbst entscheiden, ob er von Alexa und Co. beraten werden will oder nicht. Bei dieser Entscheidung dürfte sehr viel am Thema „Vertrauen“ hängen, aber definitiv auch an der Einfachheit, Schnelligkeit, Qualität und Unabhängigkeit der Beratung sowie natürlich auch am Preis.

Vertrauen und Empathie waren im Versicherungsvertrieb schon immer wichtig und werden wichtiger denn je. Hier kann der humane Vertrieb aktuell definitiv punkten!

Wie hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Klicken Sie auf einen Stern, um den Beitrag zu bewerten!